Inhalt
Der Band Die Straßenbahnen kommen pünktlich (Arbeitstitel) versammelt 15 Erzählungen des kasachstanischen Autors Yuriy Serebriansky, die zwischen 2018 und 2023 in verschiedenen Literaturzeitschriften in Kasachstan, den USA, Russland, der Schweiz und Tschechien publiziert wurden.
Die Lektüre dieser Sammlung ist eine geografisch-zeitliche Reise. Sie beginnt im alten Alma-Ata der 1980er und 90er Jahre (Муравьиная злоба – Groll der Ameisen, Наркоманы – Drogensüchtige), führt nach Polen sowie in das entfernte Tschuwaschien der Kindheit des Autors (Соль просыпается – Salz erwacht, Бася – Bassya) und bringt uns in einem Bogen in die Gegenwart dieser Länder (Соль – Salz, Ералы – Eraly, DBX – DBX, Трамваи ходят по расписанию – Die Straßenbahnen kommen pünktlich). Wir reisen nach Moskau, quer durch Polen bis in die heutige Ukraine, suchen an den Grenzen der Kriegsgebiete nach Leben (Соль просыпается – Salz erwacht, Соль – Salz) und kommen nach Almaty, das moderne Alma-Ata, zurück. Jedoch endet der Weg hier nicht. Wie ein wahrer Nomade wandert Serebriansky weiter bis zu den Nachtclubs Thailands (DBX – DBX), findet sich verliebt in Chicago und ernüchtert in Almaty wieder (Хель – Hel, Касание – Die Berührung, Антибиотики – Antibiotika, Дача – Datscha, Мужчина – Der Mann, Девочка на крыше гаража – Ein Mädchen am Garagendach, Часовой мастер – Der Uhrmacher).
Die Erzählungen sind wie ein Flickenteppich miteinander verwoben. An der Oberfläche scheinen hier ganz unterschiedliche Geschichten nebeneinander zu stehen, doch durchzieht sie in Form von Motiven und Handlungselementen ein Faden, der sie zusammenhält. Diese Kompilation erweckt zugleich einen Eindruck von Nähe und Ferne, was die Besonderheit von Serebrianskys Stil ausmacht. Mit seiner teilweise lyrischen Sprache schafft er es, die nüchterne Perspektive eines Außenstehenden einzunehmen, während er sich inmitten der Geschehnisse befindet.
Kurzbiografie Autor
Yuriy Serebriansky (geboren 1975) ist ein kasachstanischer Autor mit polnischen Wurzeln. Er schreibt Prosa, Lyrik, wissenschaftliche Artikel und journalistische Texte.
Für seine Werke erhielt er zahlreiche Preise: 2023 den kasachstanischen Staatspreis für Literatur für den Roman Алтыншаш (Altynschasch), 2019 den nationalen Literaturpreis Алтын Калам (Goldene Feder) für den Roman Черная звезда (Der schwarze Stern). Das zweisprachige (Russisch-Kasachische) Märchenbuch Казахстанские сказки (Kasachstanische Märchen) wurde 2018 bei der Buchmesse По великому шелковому пути (Seidenstraße) in Almaty als bestes Kinder- und Jugendbuch gekürt. Die Novellen Destination. Дорожная пастораль (Destination. Straßenpastorale) und Пражаки (Prager) wurden 2010 und 2014 mit dem Russischen Literaturpreis für Kurzprosa ausgezeichnet.
Serebriansky übersetzt Literatur aus dem Kasachischen, Polnischen, Ukrainischen und Schwedischen, leitet die Schreibwerkstatt AOLS Almaty Open Literary School, ist Mitglied im PEN-Club Kasachstans und Redakteur der Zeitschrift Ałmatyński Kurier Polonijny der polnischen Diaspora in Kasachstan.
Er verbrachte mehrere Jahre in Polen, Thailand, hatte kurze Aufenthalte in den USA und lebt zurzeit in Almaty, Kasachstan.
Die deutschsprachigen Rechte sind frei (Stand 16.07.2024) und liegen beim Autor Yuriy Serebriansky, yuriyserebryansky@gmail.com.
Argumente für eine Übersetzung ins Deutsche
- Der Erzählband bietet einen seltenen Einblick in das Alma-Ata (heute Almaty) der 1980er und 90er Jahre, das damals eines der Kultur-, Wissenschafts- und Kunstzentren der Sowjetunion war.
- Die Erzählung, die in der Übersetzungsprobe vorgestellt wird, eröffnet auch einen Blick auf den Krieg in der Ukraine aus der Perspektive einer Familie, deren Geschichte eng mit Kasachstan, Russland, der Ukraine und Polen verbunden ist.
- Serebriansky beschäftigt sich mit dem aktuellen Problem gebrochener Identitäten in einer Welt, in der Landesgrenzen kulturelle Gemeinschaften durchschneiden und voneinander trennen.
- Mit seiner Arbeit versucht Serebriansky die zwei noch immer weit voneinander entfernt liegenden Pole der auf Kasachisch und Russisch geschriebenen kasachstanischen Literatur zusammenzubringen.
- Serebriansky schreibt in einer modernen Gegenwartssprache, sein Stil ist durch kurze Sätze, oft nur einzelne Worte, unvermittelte Zeitsprünge und Wechsel von inneren Monologen zu Handlungsbeschreibungen geprägt. Das sorgt für ein spannendes und mitreißendes Leseerlebnis, ist aber für Übersetzer·innen eine große Herausforderung.
- Einige der Erzählungen des Bandes wurden bereits ins Englische übersetzt, aber deutsche Übersetzungen gibt es noch nicht.
Deutschsprachige Rechte
Die deutschsprachigen Rechte sind frei (Stand 22. 10. 2024) und liegen beim Autor Yuriy Serebriansky, yuriyserebryansky@gmail.com.
Übersetzungsprobe aus dem Russischen von © Aigerim Havranek
: Salz erwacht
Manche denken, nach diesem Krieg kommt der Frieden. Aber wird man mit diesem Frieden zufrieden sein? Was ist überhaupt Frieden? Nur die Erwartung eines neuen Krieges. Die Vorbereitungen. Plastikwaffen für die Kinder, Militärdienst für die Erwachsenen, Nachrichten, Paraden. Alles wie immer. Nach dem Krieg soll ein Anti-Krieg kommen. Total und bedingungslos.
Nach Archangelskijs Vorlesungen und meiner Einsicht, dass mir die nötigen Kenntnisse fehlen, begann ich philosophische Werke zu lesen und auch in diesem Sinne zu denken.
Da saß ich also in einer Vorlesung, genauer gesagt, bei einer Buchpräsentation in der Universitätsbibliothek in Olsztyn, am Busen Europas, an einem Ort, wo selbst im Erdgeschoß eines Einfamilienhauses kein einziges Fenster vergittert ist. Zäune gibt es auch nur der Form halber. Aus Wacholdersträuchern. Meine Studenten hatte ich auch eingeladen, aber keiner von ihnen ließ sich blicken.
An jenem Donnerstag wurde ein ukrainisch-polnisches Buch präsentiert – übersetzte Gedichte. Die Autoren hatten sie nach dem vierundzwanzigsten Februar geschrieben, die ersten sogar gleich am folgenden Tag. Ein ältlicher Professor trat als Kritiker und Freund an das kleine Rednerpult rechts vom Tisch, wo die Autoren unter dem künstlichen Licht des Projektors saßen. Er entschuldigte sich gleich, dass er kein Poet sei, sondern nur ein Dichterling – auf Polnisch wierszokleta. Er verstrickte sich in einen offiziösen Tonfall, dann blickte er plötzlich ins Publikum und platzte heraus: „In unserer Kindheit beobachteten wir eine Gans durch den Hof watscheln. Sie machte Laute wie ‚Schwabe, Schwabe, Schwabe.‘ Da riefen wir: ‚Ein Ukrainer!‘ Heutzutage ist alles anders. Wir helfen einander, halten zusammen. Denn im Großen und Ganzen sind wir alle Masuren. Wohin wir auch gehen, wir haben alle das gleiche Blut.” Nach kurzem Abwarten machte er sich daran, ein doppelt gefaltetes Blatt Papier zu öffnen, doch die Verlagslektorin, die die Rolle der Moderatorin übernommen hatte, ließ ihm keine Möglichkeit, das eigene Gedicht vorzulesen. Der Alte wurde weggeklatscht. Er wirkte unzufrieden, er konnte wohl nicht verstehen, warum schon applaudiert wurde. Gleich danach trat ein baumlanger und hagerer Vertreter der Stadtregierung ans Rednerpult. Er sprach einfach und klar, mit einem Seitenblick wandte er sich an die Autoren und bedankte sich bei der Universität, dass sie die Mittel für die Herausgabe dieses wunderschönen Bandes gefunden habe. Zum Schluss trug er auf Russisch vier Strophen aus dem „Kobsar“[1] auswendig vor. Als sich der Große wieder auf seinen Platz setzte, sprang eine der ukrainischen Dichterinnen auf und trug dasselbe Gedicht auf Ukrainisch vor. Es wurde wieder applaudiert, dem Großen, der Poetin und Schewtschenko.
Im November 2015 brachte mich der ehemalige Professor der Staatlichen Universität Moskau, Viktor Ch***, in die Ausschank „Przedwojenna“ in Breslau. Gerade waren wir auf einem literarischen Treffen mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan im kalten und monumentalen Gebäude des Zentralarchivs gewesen. Um vier Uhr nachmittags war das „Przedwojenna“ überfüllt, die wackelig quakenden Sessel klangen wie Jazz, alle Getränke für fünf Złoty und Käse – gzik, der an der Gabel kleben blieb. Wir saßen an der großen kalten Fensterwand mit Blick auf die Kirche … und tranken Bier. Das ganze Ambiente des Lokals erinnerte in seinem Stil an die polnischen dreißiger Jahre. Jedenfalls stelle ich sie mir so vor. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sogar die Möbel authentisch. Die Zeitungsauschnitte an den Wänden, das Halbdunkel der Tischlampen, das die lauten, sich schreiend miteinander unterhaltenden Gäste wie um ein Feuer näher zusammenrücken lässt.
Nach dem Trinken gingen wir in die stille Elisabethkirche hinüber, in die Dunkelheit, in den Geruch des alten Holzes und der Bibeln. Ich schlenderte die Wände entlang und blieb schließlich an einer Tafel zum „Andenken an die Polen von Wolhynien, die von den ukrainischen Nationalisten ermordet wurden“, stehen.
Die Bibliothekstür fiel mit Getöse zu. Ein Student hatte zu unpassender Zeit beschlossen zu überprüfen, was hier vor sich ging. Er wurde angezischt.
WhatsApp klingelte. Mutter rief an. Ich ging in den langen Gang hinaus.
„Hallo Mama. Wie geht’s?“
„Grischa ist tot. Sie haben ihn umgebracht.“
Ihre Stimme klang dumpf und emotionslos.
„Mama, was redest du da? Was ist passiert?“
Ich dachte, dass uns Betrüger abzocken wollten oder dass es vielleicht etwas anderes war, aber warum sollte jemand sagen, dass er umgebracht worden sei! Unsinn.
„Jurik, bist du in Polen?“
„Mama, ja, natürlich bin ich in Polen. Ich verstehe nicht, was, wer hat dich angerufen? Wer sagt dir so was?“
„Sohn, jemand muss ihn abholen.“
„Was redest du, Mama? Wart‘ mal, ich ruf ihn selbst an. Ist er jetzt in Moskau?“
„Jura, er war in der Ukraine. Hol ihn ab.“
„Mama, warum in der Ukraine? Was redest du?“
„Er ist aus Russland mobilisiert worden, hast du das nicht gewusst?“
„Nein, er hat nichts geschrieben, wir waren doch erst vor Kurzem in Kontakt.“
Ich log, und ich log nicht zum ersten Mal. Ich log jedes Mal, wenn sie fragte, ob ich mit meinem Bruder in Kontakt sei.
„Jura, ich schick dir jetzt die Adresse und die Daten, find‘ ihn bitte.“
„Mama, ich kontaktiere ihn gleich und ruf dich dann zurück, gut? Beruhig dich. Lenk dich ab.“
Mutter legte auf.
Aus dem Archiv rief ich den Chat mit Grigori auf und schrieb „Hallo Bruder! Wie geht’s?“. Dann versuchte ich ihn anzurufen. Sein Handy war ausgeschaltet. Ich schrieb Lilya. „Hallo! Wie geht es meinem Bruder?“. Ich wollte sie gerade anrufen, kam aber nicht dazu. Das Handy vibrierte.
„Mama, er hat noch nicht geantwortet, ich werd‘ ihn erreichen, was sagt Lilya?“
„Einer von den anderen Mobilisierten, der mit ihm dort war, hat sie benachrichtigt.“
„Wo, Mama? Das ist Erpressung, das sind Betrüger. Was haben die genau gesagt?“
„Sie glauben, dass Grischa beim Rückzug umgebracht worden ist.“
„Sie glauben. Na siehst du.“
„Er antwortet niemandem.“
„Mama, soweit ich weiß, haben die Soldaten kein Handy.“
„Jemand muss ihn nach Almaty oder nach Moskau bringen. So wie Lilya das entscheidet.“
„Hör auf, Mama. Ja, wir müssen ihn finden, natürlich lebend und gesund. Er wird selbst zu dir kommen.“
„Finde ihn bitte, Sohn.“
„Mit wem soll ich mich in Verbindung setzen, ich brauch Kontakte, wo und mit wem er dort ist, schick sie mir, Lilya antwortet nicht.“
„Ich schick dir die Nummer von Tatjana, erinnerst du dich an sie? Sie war das Kindermädchen von Maxim und ist nach Lwiw zurückgegangen. Ich schick sie dir jetzt.“
„Und man muss nicht gleich das Schlimmste befürchten, Mama. Wir finden ihn. Ich finde ihn.“
[1] Gedichtsammlung des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko aus dem Jahr 1840, die einen Meilenstein für die ukrainische Kultur und Sprache bedeutet.
(S. 23-26)
Aigerim Havranek (geb. 1983 in Nordkasachstan) studierte Deutsch als Fremdsprache und Deutsche Philologie in Pawlodar, 2010 promovierte sie im Fach Vergleichende Sprachwissenschaft in Kokschetau. An der Universität Wien schloss sie 2016 das Masterstudium Deutsche Philologie ab. Mit dem Versatorium Wien übersetzte sie Gedichte von Roberta Dapunt, Ferenc Szijj, Rosmarie Waldrop und Charles Reznikoff ins Kasachische und Russische. 2017 erhielt sie das Thomas-Bernhard Forschungsstipendium für die Übersetzung von Kurzprosa-Texten von Thomas Bernhard ins Kasachische. 2019-2023 war sie Teil des Projekts „Grand Tour Zentralasien” der Goethe-Institute Kasachstan und Usbekistan, wo sie deutschsprachige und kasachische zeitgenössische Lyrik ins Kasachische und Deutsche übersetzte. Sie lebt und arbeitet in Deutsch-Wagram, NÖ.
Veröffentlichte Übersetzungen:
- Norbert Hummelt / Goethe-Institut (Hrsg:): SIMURGH. Junge Lyrik aus Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan. 2023 Fünfsprachig Wunderhorn, 323 Seiten (Co-Übersetzung).
- Almaty und Taschkent Goethe Institut (Hrsg:): Simurgh: Anthologie deutscher Gegenwartslyrik in zentralasiatischen Sprachen. 2022 Steppe&World, 348 Seiten (Co-Übersetzung).
- die krankheit wunder. le beatitudini della malattia. Folio Verlag, Wien – Bozen 2020. 165 Seiten (Co-Übersetzung).
- Kutatási utazási utasitás egy. Mit Übersetzungen von Gedichten von Ferenc Szijj, Rosmarie Waldropund Charles Reznikoff. Neuberg College Press: Neuberg/Mürz 2018 (Co-Übersetzung).