Inhaltsangabe
Der Roman hat erklärtermaßen autobiographische Hintergründe und erzählt das Aufwachsen eines Geschwisterpaars mit einer Mutter, die an einer bipolar-affektiven Störung leidet. Es handelt sich insofern eher um eine Familienstudie – der Vater (The Big Hoom, „because he made hoom sounds when we asked him something”) ist gendertypisch oft abwesend und kommt mit dem Leiden seiner Frau selbst nicht recht klar, auch wenn er sie und seine Kinder innig liebt – und weniger um einen pittoresken Roman über Indien.
Mumbai und auch Goa, wo die Familie ihren Anfang hatte, kommen zwar vor, und man erfährt auch so einiges über soziale Verwerfungen in Goa und der indischen Wirtschaftswelt, wichtiger aber sind die heftigen Auswirkungen einer psychisch kranken Mutter auf ihre Kinder. Denn Em („for Mother“) hält sich in ihren Kommentaren selten zurück und lässt ihre Kinder in vielerlei Hinsicht ohne mütterlichen Schutz und jedenfalls extrem gefordert aufwachsen, dafür sind sie aber viel näher dran am wirklichen Leben – bis hin zum frühen Tod der Mutter in einer Klinik.
In der Mutter als Hauptfigur schenkt uns der Autor einen scharfen Blick auf Wesen und Wirkung von psychischen Erkrankungen und auch in den Umgang der Angehörigen damit. Hier kommt viel Leid und Schmerz zum Ausdruck, bei der ständig dem Suizid nahen Mutter ebenso wie bei ihrer Familie, vor allem beim Erzähler-Ich.
Nebenbei wird in – meist bei der Mutter abgefragten – Rückblenden die Liebesgeschichte der Eltern erzählt, und Pinto gelingt der Kunstgriff, diese Familie aus mehreren Lebensaltern zu schildern: mal ist er neun Jahre, dann ein Teenager oder journalistischer Volontär.
Argumente für eine Übersetzung ins Deutsche
Neben dem höchstpersönlichen Blick auf seelische Erkrankungen spricht aus diesem Buch enorm viel Humor, der meist in den unverblümten Bemerkungen und drastischen Ausdrücken der Mutter schillert – ihre wortspielerischen Neologismen machen einen Gutteil der übersetzerischen Herausforderung aus! –, aber auch der Erzähler selbst versprüht einen guten Witz in seinen Schilderungen, außerdem erfindet er etliche amüsante Nebenfiguren.
Der Roman wurde meines Wissens bisher nur ins Französische übersetzt (Actes Sud 2015). Dass er inzwischen zehn Jahre alt ist, stellt für mich keinen echten Nachteil dar, da es hier kaum um temporäre Realien (wie Telekommunikation oder aktuelle Zeitgeschichte) geht, sondern vielmehr um ein zeitloses Familiendrama.
Kurzbiographie Autor
Pinto ist knapp 60 und lebt in Mumbai, er schreibt sowohl Prosa und Lyrik als auch journalistische Texte. Geboren ist er in Goa und hat wohl deshalb einen katholischen Hintergrund. Seinen Erstling, den ich hier präsentiere, hat er 2012 publiziert und in seiner Heimat diverse Preise damit gewonnen; seitdem hat er noch mehrere weitere Titel geschrieben, die möglicherweise ebenfalls für einen Verlag interessant wären.
Übersetzungsprobe aus dem Englischen von © Werner Richter
Jerry Pinto: Emm & der große Huum
1. „Jemand hat das Wasser aufgedreht“
Liebes Engelsohr,
Draußen vor dem Fenster ruft ein alter Marathimann jammervoll, ob irgendwer Salz von ihm kaufen will. Zumindest glaube ich das. Mee-eeet, klagt er, Meeet-wallah, mee-eet! Sonstige Geräusche: Mae murmelt was von der Frühmesse, ein vorwitziger Spatz fordert das letzte Stück von meinem Toast.
Ich vermisse dich schrecklich. Wenn du mir aber eine Karte schreiben willst, muss ich dem abschwören. Ich finde, Postkarten sind für Bekanntschaften, und jetzt, da wir befreundet sind, solltest du dir hübsches Büttenpapier besorgen und mir einen richtigen Brief schreiben. Diese Kritzeleien reichen da nicht, die sind für die breite Masse bestimmt.
Ein Schmetterling wirft sich gegen die Scheibe im Flur, und ich muss jetzt aufstehen, um ihn hinauszulassen. Sollte deine nächste Nachricht nicht mit herzerwärmender Unverzüglichkeit eintreffen, erkläre ich dich für ungeeignet zum menschlichen Verzehr und werfe dich den Löwen vor.
In Liebe
I.
P.S.: Der Vogel hat gewonnen. Imelda – Spatz: 0 zu 1.
In ihren Briefen nannte sie ihn Engelsohr.
„Wieso Engelsohr?“ fragte ich sie auf der Psychiatriestation des Sir-J.J.-Hospitals.
Sie sah mich aus kühlen grünen Augen an und lächelte. Eine Zeitlang hörten ihre Finger auf, an der zerschlissenen Bettdecke zu nesteln, unter der sie lag.
„Ist dir das noch nie aufgefallen? Die Ohren sind doch das Süßeste an ihm. Die sehen aus wie Speckscheiben, die sich in der heißen Pfanne eingerollt haben.“
Über die Ohren meines Vaters hatte ich noch nie nachgedacht. Aber an diesem Abend, als er in der Küche für mich und meine Schwester Essen machte und ein paar Kartoffeln aufbriet, sah ich, dass er tatsächlich ungewöhnliche Ohren hatte. Wann waren ihr seine Ohren zum ersten Mal aufgefallen? Hatte sie sich zum Teil deshalb in ihn verliebt, oder war es in der hochempfindlichen Phase danach geschehen? Und als sie ihn zum ersten Mal mit diesem Kosenamen ansprach, hatte er gleich darauf reagiert? Wahrscheinlich ja, ohne nachzufragen. Sie gingen oft so miteinander um.
Sie macht mich neugierig, die Liebe. Vor allem die Liebe der beiden, die offenbar voller Codes und Rituale war, fast alle von ihr ersonnen. Sie nannte ihn manchmal auch Mambo oder Augie March, aber fast nie bei seinem richtigen Vornamen, Augustine.
Er nannte sie Imelda, so hieß sie, und manchmal auch Liebste.
Sie hatte noch einen Namen für ihn: Hand des Satans. HDS. Eines Nachts habe ich sie danach gefragt, als wir zusammen eine rauchten, auf dem Balkon unserer kleinen Wohnung in einer Stadt aus kleinen Wohnungen. Die Schlafzimmerkorridorküche mit all ihren 42 Quadratmetern hinter uns war ruhig. Direkt vor uns ragte die Mauer eines Wohnhauses auf wie eine Felswand. Zwei Bäume wurden von den Gebäuden eingerahmt, und im Laub des einen flackerte ab und zu das Licht einer Straßenlaterne. Sie kicherte, ein heiserer Kratzton, der in ein Bordell gepasst hätte.
„Weil er mich immer zur Sünde verführt hat“, sagte sie.
„Wer jetzt?“ Susan, meine Schwester, war noch wach. Sie zwängte sich zu uns auf den Balkon und wedelte mit der Hand die Rauchwolke beiseite, die wir produzierten.
„Dein Vater.“
„Aber es ist doch keine Sünde, wenn man verheiratet ist?“
„Für die kackolische Sexualoral ist es immer eine Sünde.“
„Das kann doch nicht sein.“
„Ach nein? Ich glaube, man darf nur, wenn man Kinder will. Ich wollte ja vier, aber Euer Ohren meinten: ‚Für die nächsten zwei zahlst aber du.‘ Das war’s dann, wie man so sagt. Und ich musste die übrigen sechsundzwanzig abgeben.“
„Was?!“ Susan und ich sahen uns an. Gab es da ganze Geschwisterhorden, von den wir nichts wussten?
„Ich hab sie direkt aus meiner Gebärmutter abgetreten“, erklärte sie. „Wenn es passiert war, hab ich’s immer sofort gewusst. Hab einen Knacks gehört, und schon war ich mir sicher, dass ich wieder schwanger war. Und dann hab ich zur Jungfrau gebetet, das arme kleine Ding zu sich zu nehmen und anderen Leuten zu geben, die ein Kind wollen. Vielleicht einer dieser Frauen, die sich Babys aus Wachs kaufen, um sie der erwähnten Jungfrau im Stadtteil Mahim zu opfern.“
„Also, dann hast du …“ Volles Risiko.
„Abgetrieben? Nein, wofür haltet ihr mich? Ich bin einfach fünf Treppenstufen raufgegangen und sechs hinuntergehüpft.“
„Die Treppe runtergehüpft?“
„Sechs Stufen, mit vollem Rumms gelandet, das Ganze sechsmal, um die Dingerchen aus ihren Dauben zu reißen.“
Sie wandte sich an Susan.
„Aber wenn du mal schwanger bist, dann kommst du zu mir und sagst mir das, und ich geh mit dir zum Doktor. Dann heißt es dann Ausschaben, noch bevor du Schlabberlabapp sagen kannst.“
„Was denn für Schaben?“
„Ausschabung, Kürettage. Ich weiß nicht genau, wie das geht, aber es klingt, als pflanzen sie einem da einen kleinen Priester ein. Na, jedenfalls, so was machen nur Ärzte. Also, wenn du mal angebumst wirst, suchst du dir einen richtigen Doktor, der in deinem Bauch rumkraucht, hast du gehört? Für dich gibt’s keine Hinterhofabtreibungen!“
„Was ist mit Adoption?“, fragte Susan.
„Was soll damit sein?“
„Mutter Teresa war bei uns in der Schule, und –“
„In deiner Schule?“
„Ja.“
„Hast du mir gar nicht erzählt.“
„Hab ich nicht?“
„Nein! Mir erzählt ja nie wer irgendwas. Was hat sie denn gesagt?“
„Sie sagte, wenn wir schwanger werden, sollen wir das Kind austragen und nachher ihr geben.“
„Das hat sie gesagt? Himmelsakra!“
Sie runzelte die Stirn und dachte eine Weile nach.
„Wahrscheinlich kommt es daher, dass sie seit Jahrhunderten nicht mehr in der realen Welt lebt. Die war im Kloster, ist also nicht ihre Schuld. Trotzdem. Angenommen, ich werde heute schwanger. Angenommen, ich werde schön dick und rund, und alle fragen: ‚Wann ist es so weit?‘ oder ‚Meine Güte, dein Bauch ist ganz spitz, das wird sicher ein Junge!“ oder ‚Was wünschst du dir? Rosa oder blau?‘ – und nach alledem hab ich dann gar kein Baby an der Brust? Was glaubst du, was die denken? Was sollte ich denn sagen? ‚Och, ich hab das Kind ausgetragen und es dann der Mutter T. gegeben, weil ich mir das nicht leisten konnte, und eine Abtreibung wollte ich aber auch nicht …?“
„Vielleicht sollte man sich eine Zeitlang verstecken“, sagte ich.
„Genau, einfach sechs-sieben Monate auf Urlaub gehen. Und wohin?“
„Nach Goa?“
„Goa!“, wiederholte sie theatralisch. „Das wär ja noch schlimmer, als es in Bombay zu kriegen. Ebensogut könntest du eine Annonce im O Heraldo schalten: ‚Gefallenes Mädchen zum Anglotzen und Ablästern hinter vorgehaltenen Tüchlein. Pfarrkirche der Heiligen Familie, Sonntagsmesse. Für persönliche Termine und die ganze Story bitte bei Pater Soundso anrufen.“
Sie schüttelte den Kopf.