Inhalt
„Wir waren die Zukunft” (Arbeitstitel) ist ein Roman über das Aufwachsen der israelischen Autorin Yael Neeman im Kibbuz Yehiam im Galiläa der 1960er-Jahre. Trotz des autobiografischen Charakters ist das Buch keine Autobiografie im engen Sinne: Vielmehr sind die Erinnerungen Neemans zugleich die Memoiren einer ganzen Generation von Menschen, die in den Kibbuzim des Landes mit den gleichen Liedern, den gleichen Ausflügen, Vorschriften, Filmen, Büchern, Kleidern und Vorstellungen des sozialistisch-zionistischen Traums aufwuchsen. So hält die Autorin die Erzählung konsequent im „wir“: Bis auf einige wenige Ausnahmen erzählt Neeman „ihre“ Geschichte durchgehend in der ersten Person Plural.
Anders als viele Erzählungen der Kibbuzim, die oft entweder ins Apolitische oder ins Nostalgische abgleiten, wirft Neeman ein schonungsloses, feministisches Licht auf die Welt und Ideologie der Kibbuzim und skizziert ein feines Psychogramm ihrer Generation. Sie berichtet von der Geschichte und Kultur der Kibbuz-Bewegung, den harten Gründungsjahren, den kollektiven Traumata und Mythen, den Kriegen. Durch Kinderaugen erzählt sie vom Alltag im Kibbuz, von den Interaktionen der Kinder mit den Erwachsenen, von Regeln und Vorschriften und letzten Endes vom Niedergang der Kibbuzim und ihrer Werte.
Dem „wir“ stellt Neeman ein „sie“ gegenüber – die Erwachsenen im Kibbuz, die Funktionäre, die biologischen Eltern, von denen viele, wie auch Neemans Eltern, ungarische Holocaustüberlebende waren. Ein weiterer Riss im „wir“ tut sich in der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung und Stellung von Frauen im Kibbuz auf, der Neeman stets besonderes Augenmerk schenkt. So entspannen sich im proklamierten Kollektiv des Kibbuz verschiedene Welten, die völlig getrennt voneinander zu bestehen scheinen.
Kurzbiografie Autorin
1960 geboren, wuchs Yael Neeman in besagtem Kibbuz Yehiam im Norden Israels auf, bis sie als junge Erwachsene für das Literatur- und Philosophiestudium nach Tel Aviv zog, wo sie bis heute lebt. „Wir waren die Zukunft” verkaufte sich in Israel über 20.000-mal, war wochenlang auf Platz 1. der Bestseller-Listen des Landes und wurde ins Englische, Französische, Niederländische und Polnische übersetzt. Nach „Wir waren die Zukunft” publizierte Neeman unter anderem eine Kurzgeschichtensammlung (Ktovet Esh, 2013) sowie einen weiteren Roman (Hayio Hayita, 2018). Beide Bücher wurden für den Sapir Prize for Literature nominiert. Hayio Hayita, („Sie war einmal“), verkaufte sich ebenfalls über 20.000-mal und war wochenlang Bestseller in Israel. In diesem Buch erzählt Neeman die reale Geschichte einer Tochter von Holocaustüberlebenden, die versucht, alle Spuren ihres Lebens und Wirkens zu tilgen. 2015 gewann die Autorin den israelischen Prime Minister’s Prize for Hebrew Literary Works, 2021 den Agnon Preis und nimmt so einen festen Platz im Kanon der zeitgenössischen hebräischen Literatur ein. Bisher wurde noch keines ihrer Werke ins Deutsche übersetzt.
Argumente für eine Übersetzung ins Deutsche
„Wir waren die Zukunft” ist ein ehrlicher Roman, der das Potenzial hat, der deutschsprachigen Leser·innenschaft einen neuen, feministischen Blick auf die Kibbuz-Bewegung sowie auf die facettenreiche israelische Gründungsgeschichte zu bieten. Durch das verheerende Hamas-Massaker sind die Kibbuzim im Süden des Landes weltweit wieder in aller Munde, oft ohne allzu genaues Hintergrundwissen. Mit einer Übersetzung von Wir waren die Zukunft ins Deutsche erhoffe ich mir, empathische und differenzierte Einblicke in den Kosmos der Kibbuzim zu eröffnen.
Deutschsprachige Rechte
Die Rechte sind frei und liegen beim Israeli Institute for Hebrew Literature.
Übersetzungsprobe aus dem Hebräischen von © Lucia Engelbrecht
Yael Neeman: Wir waren die Zukunft
Unsere Geschichte erzählten wir uns selbst. Die ganze Zeit. Zwanghaft. Aus dem Gedächtnis. Manchmal waren wir schon erschöpft, bevor wir zu erzählen begannen, und trotzdem erzählten wir, stundenlang. Gespannt hörten wir einander zu, denn immer, wenn die Geschichte abends erzählt wurde, erfuhren wir neue Details, auch als wir schon seit Jahren nicht mehr dort lebten.
Zum Beispiel wussten wir nicht, dass manche Kinder aus der Pinien-Gruppe, die fünf Jahre älter waren als wir, bei den Rindern gearbeitet und mitten in unserem Kibbuz in einer bäuerlichen, ungarischen Enklave gelebt hatten. Wir wussten nicht, dass sie sich morgens und abends mit Lófasz („Pferdepimmel“) begrüßt hatten und dass Itai mit nur sechs Jahren ohne Sattel um unsere Hügel geritten war.
Im Gegensatz zu all den geschriebenen Vorschriften wurden die Geschichten nur mündlich erzählt. Sie stiegen aus den Öffnungen der Wassersprinkler auf, die den Rasen um den Speisesaal umgaben, aus den Spalten der Nimrod-Burg, unserer Kreuzfahrerfestung, aus den Ritzen der schönen schmalen Steinwege. Unsere Geschichte erzählten wir mit glänzenden Augen. Wir sagten: „Nicht zu glauben, dass sie die Kühe vor unseren Augen auf der Rampe geschlachtet und den Hühnern
die Köpfe abgehackt haben, als wäre es das Normalste auf der Welt“, aber wir redeten, als wären es die besten Jahre unseres Lebens gewesen.
Und es waren tatsächlich die besten Jahre unseres Lebens, in Gold getunkt, gerade weil wir in der brennenden Hitze der ewigen Sonne in Eiseskälte lebten. Angespannt und wissbegierig begrüßten wir jeden neuen Tag. Morgens waren wir wach, nachts waren wir wach. Wir rannten und hüpften von hier nach dort, unsere Hände klebrig vom Harz der Pinien und dem milchigen Saft der Feigen. So nah waren wir einander, den ganzen Tag und die ganze Nacht über, und doch wussten wir nichts voneinander. Und wir wussten nichts über uns selbst.
Wir erzählten immer, schon damals, in Nächten von orangefarbenem Mond, im Kinderhaus. Schon damals erzählten wir Tag und Nacht, um zu schlafen, um nicht zu schlafen, saßen auf den Gängen in den offenen Türen oder in den Zimmern auf den Betten und übertrieben maßlos den Urlaub mit unserer biologischen Familie in der Stadt (dorthin fuhren wir mit Mutter, Vater und den Geschwistern. Für eine Woche waren wir eine Familie aus der Stadt und trugen die feierliche Ferienkleidung, die unter allen Kindern, die in die Stadt fuhren, weitergereicht wurde). Wenn wir jeweils einzeln von der Wohnung des Kibbuz in der Sheinkin-Straße in Tel Aviv zurückkamen, erzählten wir einander vom Zirkus Medrano, zu dem alle gingen. Nur dass eben der Abend, an dem wir mit unserer biologischen Familie im Zirkus waren, nicht wie alle anderen Abende gewesen war – an jenem Abend, so erzählten wir, seien Löwen aus dem Käfig geflohen und der Seiltänzer sei vom Seil gefallen. Wir erzählten einander Geschichten, die keinen Funken Realität in sich hatten.
Nachdem wir aus dem Kibbuz weggezogen waren, versuchten wir manchmal, den Städtern unsere Geschichte zu erzählen. Es gelang uns nicht, sie verständlich zu machen, weder die Handlung noch den Ton. Unsere Stimme überschlug sich, war zu hoch oder zu tief, wie die Kakofonie unserer Blockflöten in der Kindheit. Mittendrin gaben wir auf. Die Worte fielen dumpf zwischen uns und die Städter, wie die Maschen von den Nadeln unserer Mütter, die schweigend neben den sprechenden Männern auf den Kibbuz-Versammlungen strickten.
Wir sprachen im Plural. So wurden wir geboren, so wuchsen wir auf, vom ersten Tag an. Unser Horizont war merkwürdig, verbogen.
Ab dem Moment unserer Entlassung aus dem Krankenhaus versuchten sie nie, uns zu trennen. Ganz im Gegenteil, sie fügten, klebten, schweißten uns zusammen.
Aber das Zusammenschweißen war nicht das Wichtigste, auch wenn es manchmal so scheint, wenn andere von ihrer Kindheit im Kibbuz erzählen. Es war lediglich ein Effekt des sozialistischen Experiments. (Der Beschluss für das gemeinsame Schlafen der Kinder wurde 1918 gefasst und in allen Kibbuzim eingeführt, bis auf eine Handvoll der Gründerkibbuzim – Degania Alef, Degania Bet und Ein Harod – die sich dagegen ausgesprochen hatten. Man sah es ihnen nach. Degania war zuerst da gewesen, lange vor dem System und den Regeln).
Das Ziel war nicht, zusammenzuschweißen, sondern zu trennen, die Kinder von der drückenden Schwere der Eltern zu trennen, von den Verhätschelungen und den Erwartungen, die den Kindern durch die Milch der Mutter und die Ambitionen des Vaters aufgezwungen zu werden drohten. Zu trennen, und die Kinder vor der bourgeoisen Natur der Familie zu beschützen. Wacht auf, Verdammte dieser Erde, eine andere, gerechte und gleiche Welt sollte wie ein Phönix aus der Asche entstehen. Das war die Hoffnung und der deklarierte Anspruch an das Neue Kind – es sollte zum Neuen Menschen heranwachsen. Wenn manche der Kibbuz-Kinder von ihrer Sehnsucht nach der Familie, die sie nie hatten, sprachen, war das wie die Sehnsucht der Juden in der Diaspora nach Jerusalem – eine Sehnsucht nach einer Idee, von der wir nicht die leiseste Ahnung hatten.
Als ich in der zweiten Klasse war, sah ich zum ersten Mal einen Erwachsenen im Pyjama. Es war mein Vater, eingeschlafen während der Nachmittagsschicht. Jeden Tag gingen wir von 17:30 bis 19:20 Uhr zu den Zimmern unserer Eltern, für eine Stunde und fünfzig Minuten (bis zur siebten Klasse, danach verlegten sie uns in eine Schule im Kibbuz Evron). An jenem Tag ging ich um 17:30 Uhr ohne zu klopfen in ihr Zimmer (wir klopften nirgendwo an, und auch unsere Türen standen immer offen, denn es gab ja nichts zu verstecken, die Häuser gehörten allen und waren kein bourgeoises Eigentum, das man zu bewachen und zu verriegeln hätte), und er schlief im Pyjama auf dem Bett. Ich rannte nach draußen, mein Herz raste, und ich schrie, dass mein Vater tot sei. Er ist tot. Jemand sah mich dort auf dem Weg und ging vorsichtig hinein, um nachzusehen. Zwi N. ist nicht tot, Zwi N. schläft. So also sehen schlafende Erwachsene aus: Sie liegen ausgestreckt und leise auf ihren Betten, mit den Gesichtern zur Wand, die Rücken uns zugewandt, und sie tragen, zugedeckt mit Piqué-Decken, riesige Pyjamas.
Unsere Geschichte schien einer einzigen paradigmatischen Erzählung zu folgen. Die Erzählung, die das ideale System war, eignete sich weder für Kinder noch für Erwachsene. Unsere Eltern lebten neben ihr, wir unter ihr. Niemand lebte tatsächlich in ihr, denn sie war nicht dazu geschaffen, Menschen zu beherbergen, sondern nur ihre Ambitionen und Träume. Und doch versuchten unsere Eltern und wir mit jeder Faser unseres Seins in ihr zu leben – das war das Experiment. Unserem Ideal konnte man nicht entsprechen.
Ehrfürchtig verneigten wir uns vor ihm, wussten, dass wir es nie erreichen würden. Tag und Nacht huldigten wir ihm: Unsere Eltern durch hunderte angehäufte Urlaubstage, Frucht ihrer unaufhörlichen Arbeit. Und wir Kinder im Feld, im Speisesaal, im Kinderhaus. Überall.
Wir wussten nichts über das Leben der Erwachsenen, nichts über ihr Wach-Sein und nichts über ihren Schlaf. Die Erwachsenen bewohnten einen anderen Planeten als wir.
Wir bewegten uns zueinander wie die zwei Reihen der Tänzer, die sich freitagabends im Speisesaal in taktvollem Schritt einander annäherten und wieder voneinander entfernten. Wir mit unseren blumigen Gruppennamen: Narzisse, Anemone, Hyazinthe. Sie mit ihren Gruppennamen, die Namen der erfolgreichen Pioniereinheiten der Kibbuzim: Erster Mai, Stalin, Acker, Arbeiter. Wir mit unseren Vornamen, frisch von Tau und Regen: Yael, Michal, Tamar, Ronen. Sie mit ihren erst vor kurzem aus dem Ungarischen hebräisierten Vornamen: Von Freddie zu Zwi, von Aggi zu Naomi, von Latsi zu Jitzchak.
Wir lebten in Paralleluniversen, wir in der Kindergesellschaft, unsere Eltern in der der Erwachsenen.
Wir bewegten uns in großen Scharen wie Vogelschwärme, Zebraherden, immer in zwei großen Gruppen. Zu den täglichen Treffen um 17:30 gingen wir Kinder alle gemeinsam, begleiteten uns gegenseitig zu den biologischen Familien, und nach einer Stunde und fünfzig Minuten marschierten wir auf denselben Wegen mit den Eltern zu den Kinderhäusern zurück.
Unser Abendessen fand im Kinderhaus statt. Ihres im Speisesaal. Wir waren gerade erst auf der Welt, als wir direkt vom Krankenhaus ins Säuglingshaus gebracht wurden, wo die für Säuglinge und Kinder zuständige Arbeiterin, die Metapelet, auf die Mütter wartete. Die Mütter kamen gemeinsam, um zu stillen, immer gemeinsam und zur gleichen Zeit. Eine neben der anderen saßen sie da und stillten. Die synchronisierte Stillzeit sollte sicherstellen, dass es kein Kind gab, das weniger als die anderen bekam. Nicht weniger und nicht mehr.
Lucia Engelbrecht studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien sowie der Hebrew University of Jerusalem. In Wien recherchiert sie zudem für die Gedenkstätte Yad Vashem zu Opfern und Täter·innen der Shoah. Heute übersetzt Lucia Engelbrecht Prosa, Lyrik, Sachbücher sowie Kinderbücher aus dem Hebräischen ins Deutsche, zuletzt Roy Chen, Orit Gidali und Maya Kessler. 2023 gewann sie den Übersetzer·innenpreis der Stadt Wien für ihre Übersetzung Vergangenes Jetzt (Zichron Dvarim) von Yaakov Shabtai.
Veröffentlichte Übersetzungen aus dem Hebräischen
Bücher & Essays:
- Orit Gidali: Der Erinnerungshändler (Original: אנשים נגעו בירח). Vermes Verlag, Wien 2024 (in Druck).
- Essays des Philosophen Josef Schächter, in: Josef Schächter. Writings and Documents in the Context of the Vienna Circle, herausgegeben von Esther Heinrich-Ramharter. Springer Wissenschaft, 2024 (in Druck).
- Rosenfeld. Gutkind Verlag, Berlin (erscheint unter Autor·innen-Pseudonym).
Texte für Zeitungen, Bühnenaufführungen und Lesungen:
- Roy Chen: „Seelen” (Ausschnitt). Original: נשמות, Keter, Jerusalem 2020.
- Eshkol Nevo: „Kriegstagebuch“. Monatliche Kolumne, veröffentlicht u.a. in FAZ, der Freitag, Welt am Sonntag und Jungle World, 2023-2024.
- Nava Semel: Unsere Kerzenleuchter. Original: הפמוטים שלנו, Yedioth Sfarim, Rishon LeZion 2018. Übersetzung für den Jewish National Fund, 2023.